Seenotrettung ist ein Gebot der Menschlichkeit | Leserbrief

Im August 2020 lief das kirchliche Rettungsschiff „SeaWatch 4“ zu seinem ersten Rettungseinsatz aus. Der Patriot berichtete in einem Artikel vom 05.08.2020 darüber. Das löste eine Leserbriefkritik aus, die das Lippstädter Netzwerk für Frieden und Solidarität veranlasste, ebenfalls einen Leserbrief zu dem Thema zu veröffentlichen; dies auch vor dem Hintergrund, dass Lippstadt laut Ratsbeschluss „Sicherer Hafen“ geworden ist.

An dieser Stelle drucken wir unseren Leserbrief ab, da er thematisch zur Seenotrettung und der im Dezember 2020 durchgeführten Mahnwache passt:

Seenotrettung ein Gebot der Menschlichkeit

Es ist gut und richtig, dass die EKD (Ev. Kirche Deutschlands) auf dem Kirchentag 2019 in Dortmund mit überwältigender Mehrheit beschlossen hat, sich an der Seenotrettung zu beteiligen. Das christliche Gebot der Nächstenliebe zählt zu den hervorragendsten Geboten überhaupt: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“; umformuliert: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu“, so wird es als Goldene Regel im Projekt Weltethos, von allen großen Religionen getragen – ein ethischer Grundsatz im Übrigen auch für Religionsferne.

Zu den Argumenten der Kritiker gehört der angebliche Pull-Effekt – dass Flüchtlinge durch die Aussicht gerettet zu werden, dann vermehrt nach Europa strömen. So logisch und nachvollziehbar das klingt, so falsch ist es erstaunlicherweise! Wissenschaftliche Studien aus Großbritannien und Italien über mehrere Jahre belegen, dass es absolut keinen Effekt hat, ob nun gerade Seenotrettung stattfindet oder auch nicht.

Hartnäckig hält sich der Mythos, Frau Merkel habe alle Flüchtlinge zu uns eingeladen. Nein, sie hat im Herbst 2015 lediglich eine Lösung für die Menschen angeboten, die auf ihrer Flucht, den beginnenden Winter im Nacken, bereits im Balkan feststeckten; zutiefst mitmenschlich in einer Situation, in der die angeblich christliche Wertegemeinschaft in ganz Europa auf das Schändlichste bis heute versagt.

Eine weit verbreitete Unwahrheit besagt, dass die allermeisten Flüchtlinge ja gar keinen Schutz bekommen. Das gilt, wenn überhaupt, nur für das politischen Asyl (Anerkennung zwischen 20 % und 50 % seit 2015), aber es gibt darüber hinaus einen subsidiären und einen humanitären Schutz. Seit 2015 werden im Schnitt nur etwa ein Drittel der Asylanträge als unbegründet abgelehnt (Quelle: BAMF). Unsere Rechtsstaatlichkeit, auf die wir stolz sein sollten und wegen der uns viele Menschen auf der ganzen Welt beneiden, gebietet es, ordentliche Asylverfahren durchzuführen auf die ein grundgesetzlicher Anspruch besteht.

Das kostet Geld, richtig! Aber solange wir nicht bereit sind, für unsere Lebenshaltungs­kosten so viel zu bezahlen, dass die Menschen, die unsere Lebensmittel und Waren herstellen, auch davon leben können, solange wir ihre Existenzgrundlage durch unsere hochsubventionierten Exporte zerstören (z.B. Milchpulver, Hähnchenschenkel etc.), so lange werden Menschen fliehen. Eine gerechte Wirtschaftsbeziehung wird unsere Lebenshaltungskosten deutlich erhöhen und das wird der Preis sein, für den Menschen nicht mehr die Flucht übers Mittelmeer antreten müssen.

Solange die EU-Politik sich als unfähig erweist, nachhaltige Lösungskonzepte zu erarbeiten ist die Seenotrettung ein letzter Rettungsring der Menschlichkeit. Dies ist echte Verantwortungsethik, die aus mitmenschlicher Gesinnung entsteht. „Man lässt keine Menschen ertrinken – Punkt“, so Pastorin Sandra Bils im Abschlussgottesdienst des Ev. Kirchentags 2019 (über 20.000 sind seit 2014 ertrunken). Das nämlich wäre die Abwesenheit jeglicher Ethik. Der Kirchentagspräsident Hans Leyendecker hat es als Tötung durch unterlassene Hilfeleistung und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Lippstädter Netzwerk für Frieden und Solidarität e.V.