20 Jahre Aufbauleistung in wenigen Tagen zerstört
Das Lippstädter Netzwerk für Frieden und Solidarität e.V. ist schockiert über die Entwicklungen in Afghanistan. Es ist erschreckend, wie Tausende Menschen verzweifelt versuchen, das Land zu verlassen. Es ist erschreckend mit anzusehen, wie schnell 20 Jahre Aufbauleistung innerhalb weniger Tage zunichte gemacht wurden und welcher Rückschritt diesem Land nun nach der Okkupation durch die Taliban droht.
Nun sieht es so aus, als sei Afghanistans Vergangenheit auch seine Zukunft.
Denn es ist zu befürchten, dass die islamistischen Taliban erneut ihre Terrorherrschaft errichten, geprägt von extremer Gewalt gegen Andersdenkende und krankhaftem Frauenhass.
Viele Frauen, die sich in den letzten Jahren öffentlich für Frauenrechte engagiert haben – Politikerinnen, Journalistinnen, Aktivistinnen, Unternehmerinnen, Professorinnen – müssen im Moment ernsthaft um ihre Sicherheit bangen.
Falscher Ansatz der Koalitionstruppen in Afghanistan
Kein Zweifel, die Koalitionstruppen haben viele und schwere Fehler begangen, vor allem weil sie viel zu sehr auf das Militär setzten und nicht mit den Menschen über ihre Bedürfnisse sprachen.
Aber in dieser Zeit entstand doch vorsichtig so etwas wie eine Zivilgesellschaft mit Studierenden, freie Medien, Mädchenschulen.
Die Bundesregierung trug ihren Teil zu dem aktuellen Desaster bei. Sie beteuerte, niemanden im Stich zu lassen und schob gleichzeitig noch vor wenigen Wochen Afghanen in ihre frühere Heimat ab.
Vieles, was in den vergangenen Jahren erreicht wurde, wird unter der Herrschaft der Taliban verschwinden, der Alltag wird sich drastisch verändern. Wir aber dürfen die Menschen nicht allein lassen, die für ein freies und selbstbestimmtes Leben gekämpft haben.
Stimmen Betroffener aus Lippstadt und Umgebung
(alle Namen zum Schutz der Betroffenen geändert)
Laila: „Meine Tante darf nur für ganz, ganz kurze Zeit in der Burka und in Begleitung eines männlichen Verwandten Medizin für ihren behinderten Mann holen. Dabei hat sie schon in den 60er Jahren einen Minirock getragen.“
Zarifa: „ Meine Cousine verbrennt ihre Schulbücher und traut sich auf dem Bazar nicht ihrem Vater dabei zu helfen, Preise zu vergleichen und Wechselgeld nachzuzählen. Sie mochte Englisch und macht sich große Sorgen um ihre Englischlehrerin.“
Zoher: „Die Taliban werden die Männer und Frauen nicht mehr öffentlich im Stadion an der Torlatte aufhängen, weil das dem Ansehen ihrer neuen ausländischen Geschäftsfreunde schadet, aber sie tun es mit deren Zustimmung in allen Hinterhöfen.“
Fahim: „Jetzt sind alle deutschen Minister über den schnellen Erfolg der Taliban erstaunt. Vielleicht hätten sie uns Geflüchtete einmal gefragt… Aber der Westen hat 20 Jahre lang nicht wirklich mit uns Afghanen*innen gesprochen. Er hat sich nie wirklich für unseren Alltag interessiert und uns nie gefragt, was wir brauchen.“
Karima: „30% der Abgeordneten im Parlament waren Frauen. Es gab Richterinnen. Für uns Frauen wird sich so viel verändern. Mädchen werden nicht einmal mehr heimlich lesen und schreiben lernen. Ihre Profile in den sozialen Netzwerken haben sie längst gelöscht.“
Hussein: „Wir können nicht helfen und halten unsere Ohnmacht nicht aus. Mein einziger Wunsch: hoffentlich ist das Versteck der Verwandten noch eine Zeit lang sicher.“
Bushra: „Eine Frau in Afghanistan hat oft nicht einmal einen Namen. Viele Männer nennen uns auf der Straße `Mutter von Torylai, Frau von Abdul Bashir`. Viele Männer würden sich eher auf die Zunge beißen als den Namen ihrer Frau zu nennen. Sie sagen zu uns `Mein Haushalt`. Und jetzt leben wir nur noch im Käfig oder sind ganz unsichtbar.“
Ali, ein Angehöriger der Hasara: „Fast 90% unserer Bevölkerung sind schrecklich arm. Die Nahrungsmittel sind knapp und teuer. Außerdem sind fast 4 Millionen in Afghanistan auf der Flucht. Wenn die Bundesregierung bald die Entwicklungshilfe wegen der Taliban aussetzen will, sind unsere Verwandten doppelt bestraft.“
Anm. der Redaktion: Die Hasara sind eine Ethnie, die seit Jahrhunderten in Afghanistan siedelt (Quelle: Zeit-online), als Schiiten unter besonders schlimmer Ausgrenzung leiden und die nun unter den sunnitischen Taliban als ethnische und religiöse Minderheit besonders gefährdet (Quelle: ai) sind:
Verantwortung übernehmen – Schutz gewähren
Wie Pro Asyl fordert auch das Netzwerk Verantwortung für die Menschen zu übernehmen die sich für Demokratie und Gleichheit der Geschlechter eingesetzt haben, wie Frauenrechts- und Menschenrechtsverteidiger*innen, Autor*innen, Künstler*innen, Sportler*innen, die an Bildung für Mädchen, an Musik, Tanz und Lachen geglaubt haben und die in ihrem Engagement auch immer wieder von der deutschen Politik unterstützt wurden:
- Für alle Afghan*innen, die für deutsche Ministerien, deutsch finanzierte Organisationen und Einrichtungen gearbeitet haben – unabhängig davon zu welchem Zeitpunkt diese Tätigkeit war. Dies muss auch für bei Subunternehmen Beschäftigten gelten. Es kann nicht sein, dass jemand der jahrelang die deutsche Botschaft geschützt hat, jetzt nicht im Gegenzug von Deutschland geschützt wird!
- Für Familienangehörige von in Deutschland lebenden Afghan*innen,
- Für Journalist*innen, die für deutsche Medien gearbeitet oder sich in ihnen kritisch geäußert haben.
- Für Wissenschaftler*innen, die in Deutschland studiert oder geforscht haben.
- Für Angehörige religiöser, ethnischer und sexueller Minderheiten.
Der Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Afghan*innen muss dringend vereinfacht werden, um die Menschen sicher zu ihren Verwandten zu holen. Um Visa möglichst schnell zu bearbeiten, sollte über eine sogenannte „Globalzuständigkeit“ das Stellen von Visaanträgen für afghanische Staatsangehörige an allen deutschen Botschaften ermöglicht werden.
Viele afghanische Schutzsuchende wurden in den letzten Jahren mit der Behauptung abgelehnt, dass es in Städten wie insbesondere Kabul eine interne Fluchtalternative gäbe. Das war schon vor der Machtübernahme der Taliban falsch.
Anhängige Verfahren müssen jetzt positiv entschieden werden, denn nur mit der Anerkennung als Flüchtling gibt es das Recht auf Familienzusammenführung. Aber anstatt jetzt afghanischen Asylsuchenden Schutz zu erteilen, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Entscheidungsstopp erlassen.
Aufenthaltserlaubnis von Amts wegen und Schutz von vormals Abgelehnten statt Widerrufsverfahren: Aufgrund der restriktiven Entscheidungspraxis leben über 26.000 afghanische Menschen nur mit einer Duldung in der Bundesrepublik – manche von ihnen dürfen noch nicht einmal arbeiten oder eine Ausbildung absolvieren. Viele haben seit 2016, dem Beginn der Abschiebungsflüge, in Angst vor Abschiebung gelebt. Diese Menschen brauchen endlich Sicherheit und eine Perspektive in Deutschland! Hierfür braucht es nicht nur einen formalen und unbefristeten Abschiebungsstopp: Da bei allen Afghan*innen aufgrund der Machtübernahme keine Ausreise auf absehbare Zeit möglich ist, kann und muss ihnen von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.
Was sich in den letzten Tagen in Afghanistan ereignet hat ist ein Versagen auf ganzer Linie. Und es ist beschämend, wie viel Zeit vergeudet wurde, es ist beschämend, dass es nun fast zu spät ist.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen gerettet werden.
Wir können viel darüber reden, wer wir sein wollen. In unserem Handeln wird sich zeigen, wer wir sind.
Afghaninnen und Afghanen brauchen Schutz!